Festrede von Prof. Dr. Friedhelm Peters, Dresden anläßlich des 40. Jubiläums des VSE
Celle 13.11.2015 „40 Jahre VSE “
Liebe KollegInnen -
Ich bin heute gerne hier zu euch gekommen, um zu „40 Jahre VSE“ zu gratulieren, denn über viele Jahre sind der VSE (als Mitglied) und die IGfH – wennzwar zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich intensiv und über unterschiedliche Personen – eng verbunden.
Und ich persönlich habe ja über die IGfH hinaus eine einige Jahre andauernde gemeinsame Geschichte mit dem VSE bzw. mit einzelnen Personen aus dem VSE aus meiner Zeit in HH in den 8oer Jahren, aus der sich mehr als zeitlich begrenzte Arbeitsbeziehungen entwickelt haben.
Da gibt es immer, bei aller Unterschiedlichkeit in manchen Hinsichten, ein fachliches gemeinsames Grundverständnis, das geprägt ist durch eine Subjektorientierung, die sich wiederum speist aus der Methode „ sich am Jugendlichen zu orientieren“ und der praktizierten Selbstverwaltung oder besser Selbstorganisation.
Aber es hat sich ja auch was geändert im Verlauf der 40 Jahre – etwas anderes wäre ja auch kaum vorstellbar – doch was ich jetzt gerade meine ist, dass mir gesagt wurde, ich solle nicht so lange reden. Das wäre vermutlich in den Gründerjahren oder auch vor 20 Jahren nicht so gewesen, aber ich halte mich dran. Ich will euch ja den Abend nicht verderben.
Dennoch bietet es sich an, zumindest ganz kurz an die 4o Jahre und was da `epochal` passiert ist, und von dem der VSE aktiver Teil ist, zu erinnern, und die heutigen Herausforderungen in 10 Minuten zu benennen:
In der Gründungszeit des VSE waren auch Alternativen in der SA und Alternativen zur gängigen Praxis der KiJuHi, die damals ja noch zumeist nur aus – kritikwürdiger – Heimerziehung bestand, getragen von eher - wenn auch diffus - „ linken“ sozialen Bewegungen (Studentenbewegung und deren Ausläufer auch in der Sozialarbeit). Man konnte sich - was allerdings auch nicht selbstverständlich war und nicht von vielen realisiert wurde - gegen die etablierte Praxis und trotzdem innerhalb des Systems der Jugendhilfe neu- und auch selbst organisieren.
In dieser Zeit unterschiedlichster `Aufbrüche` konnte man auch in dem Sinne aufbrechen, dass man traditionelle Träger verliess und – als höchste Form der Demokratie - selbstverwaltete neue gründete, mit der man die gegebenen Verhältnisse zum Tanzen brachte, indem man Alternativen zur bestehenden schlechten Praxis entwickelte und diese im „Kampf“ - gegen die Behörden, die Ämter, die etablierten Träger – realisierte, wobei diese praktisch werdende Kritik ( „der Kampf gegen…und für die Alternativen“, „selbstbestimmt und frei und ohne Chefs“) eine nicht zu unterschätzende Verbundenheit und Verbindlichkeit schafft, die ansonsten unter Bedingungen der Lohnarbeit nicht anzutreffen ist.
Peu à peu sickerten Teile eines neuen Verständnisses von Hilfe in die Praxis, die u.a. unter dem Stichwort „Lebensweltorientierung“ alltagsnäher, respektvoller, und orientiert an grundsätzlichen Subjekt- und Anerkennungsverhältnissen konzipiert wurde, und wiederum teilweise in den Reformen der 8oiger Jahre ( beispielhaft erinnert : HH Heimreform) praktisch wurden und dann auch in den partizipativ angelegten Teilen des KJHG ihren Niederschlag fanden. Auch dass Kinder nunmehr endlich als Rechtssubjekte gesehen werden (UN-Kinderrechtskonvention, ist ein Erfolg eines langen, mühseligen Wegs in der Perspektive des Projekts sozialer Gerechtigkeit. Allein dies ist nicht selbstverständlich und diese Entwicklung ist umkämpft und kann auch wieder zurückgefahren werden, woran wir derzeit erinnert werden.
Erfolg: ausdifferenziertes, professionalisiertes System – gleichzeitig im Sog 1. selbstgeschaffener und 2. politisch induzierter Probleme . Zu Ersteren zähle ich u.a. die zunehmende Spezialisierung, die nach wie vor mangelhafte Partizipation, die Rehabilitierung einer stark psychiatrisch orientierten Diagnostik und eines technologischen Erziehungsbegriffs zumal unter den diversen Vorzeichen der „Intensiv… pädagogiken“ sowie des Wiederauflebens repressiver Erziehungsmethoden in einem ständig sich weiter ausdifferenzierenden Feld , dessen Kontinuum mit den beiden gegenüberliegenden Endpunkten Hilfe und Kontrolle ständig weiter gespreizt wird.
„Nach Jahrzehnten intensiver Diskussionen und Ansätzen zur Reform der HzE und der Heimerziehung gingen wir davon aus, aus den finsteren Schatten der totalen Institutionen herausgekommen zu sein. Die letzten Jahre aber haben mit ihren aufgedeckten Skandalen, der wiederkehrenden Diskussion um geschlossene Unterbringung und zu autoritär-repressiven Erziehungsmethoden erschütterend deutlich gemacht, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns bewegen, und wie notwendig es ist, den Traditionen schwarzer Pädagogik und ihren Triebkräften offen und offensiv nachzugehen, um – vielleicht – ihre Wiederkehr verhindern zu können“ ( sinngemäss Thiersch anlässlich eines Referats vor ehemaligen Heimkindern im ev. Kinderheim Karlshöhe/Ludwigsburg : 2014).
Die organisationellen Kontexte und Praktiken Sozialer Arbeit wie der erzieherischen Hilfen unterliegen derzeit – politisch gewollt im Zeichen der sog. Reform des Sozialstaats hin zu einem aktivierenden Staat - und damit bin ich beim 2. Punkt - einem tiefgreifenden Wandel, der sich schon in der Sprache zeigt ( alles wird heute `gemanagt`) und damit professionelles Wissen veralten lassen hat, wie es noch vor 10 -15 Jahren unvorstellbar schien. Da die Sprache für uns das Medium schlechthin ist, durch welches wir `Welt` wahrnehmen und auf dieser Grundlage gestalten, sind diese sprachlichen Veränderungen in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen.
Im engeren Sinne bedeutsam geworden sind die Reformen der öffentlichen Verwaltung und der Abbau staatlicher Tätigkeit zu Gunsten privater Dienstleistungserbringer und neuen Formen von `public-private-partnership`, `Contracting-out` sowie der Etablierung von mehr Wettbewerb und `Quasi-Märkten` und damit seit ihren Anfängen eine Fokussierung der Reformvorhaben auf das Ziel ihrer vermehrten Marktgängigkeit und Warenförmigkeit.
Die Denkmuster der Ökonomie greifen, und in Gang gesetzt wird ein „ Prozess der betriebswirtschaftlichen Umstrukturierung bzw. Neusteuerung der Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Der zentrale Fokus dieses Ökonomisierungsprozesses gilt einer Reduzierung des Einsatzes der Mittel und zielt auf eine Privatisierung des Feldes“ (Kessel 2002, 1117).
War Soziale Arbeit vormals in einen gesamtgesellschaftlichen Begründungszusammenhang eingebunden und legitimierte sich aus dem Beitrag sozialpädagogischer Angebote zum Wohlbefinden des Gemeinwesens, so ist die gegenwärtige Diskussion primär betriebswirtschaftlich bestimmt. Mit dem betriebswirtschaftlichen Blick verkleinert sich die Perspektive auf die möglichst effektive Gestaltung der Einzelangebote, und zwar in Konkurrenz zu anderen Anbietern.
Es ist nunmehr die Form des Marktes, die als übergreifendes Organisationsprinzip des Staates und der Gesellschaft dient. Dem korrespondiert ein Menschenbild, das dem unternehmerischen Verhalten ökonomisch-rationaler Individuen entspricht bzw. dieses herzustellen sucht und Subjekte – auch PädagogInnen und ihre Institutionen übrigens – zu einem diesbezüglichen Handeln zu bewegen.
Fachlich bedeutsam ist des Weiteren die zunehmende Abhängigkeit der Entwicklung der erzieherischen Hilfen von der jeweiligen Problemdefinition des öffentlichen Trägers, die einhergeht mit einer de facto Abwertung der Fachlichkeit des Feldes sowie der evtl. noch vorhandenen Anwaltsfunktion für die Betroffenen.
Der Kinder- und Jugendhilfe und Sozialpädagogik werden auf Effizienz ausgerichtete Denk- und Handlungsformen verordnet, die versuchen Hilfeprozesse im Sinne von eindeutigen Ziel-Mittel-Relationen zu standardisieren. Die gerade für die lebensweltorientierte Soziale Arbeit konstitutive Betonung des biographischen Eigensinns von Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen hat in diesem Verständnis ebenso keinen Platz mehr wie eine nicht funktionalisierte Beteiligung.
Dies zeigt sich exemplarisch im Umgang mit Zeit. „Bildungsprozesse haben ihre Eigenzeit. (…) Erziehung braucht also - in der Vermittlung der dem eigenen Zeitrhythmus folgenden Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben und den je individuellen und situativen Möglichkeiten – ins Offene hinein freie Zeiträume. Erziehung weiß um die Notwendigkeit des Offenen, nicht Planbaren“ (Thiersch 2004, 262), wird aber durch die beschriebenen Prozesse des „Übergreifen(s) von Formen der ökonomischen und administrativen Rationalität auf Lebensbereiche, die dem Eigensinn moralisch- und ästhetisch-praktischer Rationalität gehorchen“ (Habermas 1981,539) zunehmend `kolonialisiert`.
Was bleibt angesichts dieses zugegeben düsteren Szenarios, das gar nicht so zu einem Jubiläum zu passen scheint – oder vielleicht gerade doch?
Nimmt man die 40 Jahre VSE zum Anlass, sich seiner Ziele und Gründungsideen zu erinnern – und welchen besseren Grund gäbe es – dann wird deutlich, dass es keine Alternative zur Subjektorientierung gibt, angesichts der – allerdings modernisierten – Wiederkehr einer pathologisierenden und responsibilisierenden Praxis, die wieder verstärkt defizitorientiert ist und nur mehr nach kurzfristigen Wirkungen fragt. Wir brauchen wieder die Orientierung an Alternativen zu einer scheinbar alternativlosen Praxis – genau wie in den 7oigern. Die Gründe und Motive zur damaligen Reformpraxis dürfen wie die einschlägigen Erkenntnisse nicht der Vergessenheit anheimfallen. Geschichtslosigkeit dient immer nur den Herrschenden. Die zu erhaltene Erinnerung an die Vergangenheit kann so zu einer Erinnerung an die Zukunft werden und dem immer noch `Unabgegoltenem` - vielleicht - zum Durchbruch verhelfen. Dazu wünsche ich Euch, dazu wünsche ich uns, Mut, Kraft und die nötige Solidarität.